Hinwendung ist ein treffendes Wort

Gabriele Seitz‘ Porträts sind wie ein wunderbarer Gegenentwurf zu egomanischen selfies und absurden Stangen an Handys zur Verlängerung der Arme von Modell-Fotograf-Zwitterwesen. Die Hinwendung charakterisiert den konstitutiven Unterschied. Mit dem notwendigen körperlichen Vorgang des Sich-Hinwendens läßt sich die Künstlerin intellektuell und seelisch auf die ihr gegenüberstehenden Menschen ein und verstärkt dabei zugleich deren Autonomie als Individuum, weil sie die Position des Gegenüberstehens nicht in Frage stellt. So kann sie Persönlichkeiten sichtbar machen, ohne alle Geheimnisse zu lüften, ohne sie zu verletzen. Dieses poetische Spannungsverhältnis zwischen der Künstlerin und ihren Modellen überträgt sich wiederum auf den Betrachter, zieht in den Bann, entwickelt eine Magie, die wirksam Widerstand leistet gegen jene Flüchtigkeit, mit der selfies von Bildschirmen gewischt werden. Die Reduktion auf das Medium der Schwarz-Weiß-Fotografie verstärkt diese Aufmerksamkeit aller Beteiligten für einander, weil sie mit den Mitteln der Formenstrenge Konzentration gebietet wie eine Fuge oder ein Sonett.

Diese Hinwendung schenkt Gabriele Seitz im vorliegenden Band zahlreichen Dresdner Kolleginnen und Kollegen. Ein sonderbarer Rollenwechsel, bei dem sich die Porträtierten zunächst dem Gestaltungswillen der Kollegin aussetzen, ohne - wie beim Selbstporträt - den Produktionsprozeß in der Hand behalten zu können, um anschließend gemeinsam mit ihr vor das Publikum zu treten. Auf diese Weise erzählen diese Fotos Geschichten über die Modelle und die Künstlerin und ihr Verhältnis zu einander, ganz wie sie klassischen Bildkompositionen mit Spiegeln entspricht: mal kleines Psychogramm, mal große Erzählung, geistreicher Dialog oder gar beredtes Schweigen. Welch ein Stoff für die Neugierde und die Phantasie des Betrachters.

Doch diese Bilder besitzen zugleich eine dokumentarische Qualität. Wann widmete sich ein Künstler oder eine Künstlerin unserer Stadt der Abbildung einer solchen Vielzahl seiner Kolleginnen und Kollegen? 207 Frauen und Männer verschiedener Generationen gestatten einen Blick in ein wahres Kaleidoskop, in dem sie zugleich als Repräsentanten der Künstlerschaft insgesamt erscheinen, einer Bevölkerungsgruppe also, die zur Verfaßtheit eines Gemeinwesens einen sehr spezifischen Beitrag leistet. Auch diesem Aspekt gilt die erkennbare Hinwendung der Schöpferin.

Ein schönes, intensives und wichtiges Buch.

Dr. Ralf Lunau
Kulturbürgermeister der Stadt Dresden

Dresden, Februar 2015