"Wer meine Schriften kennt, der weiß, dass sich die darin zutagetretende Physiognomik um den Begriff der Einbildungskraft wie um ihre Achse dreht. Nur wer mit Einbildungskraft sieht, der sieht im Teil das Ganze oder im Einen das All. Oder der sieht stets beides zugleich, mit einem einzigen Blick: die wirkliche und hinter oder vor oder in ihr die Welt der Idee und niemals die eine ohne die andere."

Rudolf Kassner in "Physiognomik"

Licht in den Augen

Zu den Künstlerporträts von Gabriele Seitz

Die Fotografie bedarf wie alle Kunst der Einbildungskraft im Sinne Goethes, des fantasiebegabten Blicks auf Menschen und Dinge, eines Zusammenfassens von innen und außen, von Inhalt und Form in einem "glücklichen", aber ständig bewegten Moment der Aufmerksamkeit und des beherzten Festhaltens. Aus dieser nahezu unendlichen Bewegung und Veränderung des Menschengesichts filtert die Radebeuler Fotografin Gabriele Seitz im fotografischen Augenblick das Wesen ihrer Probanden, zunächst allesamt Künstlerinnen und Künstler aus dem unmittelbaren Erlebnisumkreis: Maler, Grafiker, Bildhauer, Fotografen aus Dresden und Umgebung. Später, ihrem großen Interesse am Menschen, vor allem am schaffenden Künstler und seinem Lebensentwurf folgend, weitete sich der Kreis zu einem Projekt, dessen Ergebnis nun nach halbjähriger intensiver Arbeit als Fotoband mit mehr als 207 analogen Schwarz-Weiß-Porträts vorliegt.

Die wie mit Licht gezeichneten Fotografien leuchten klar in einem spezifischen, altmeisterlichen Hell-Dunkel. Vor einem neutralen, meist schwarzen Hintergrund aufgenommen, offenbart sich in jedem von ihnen die Schönheit eines unverwechselbaren Ichs mit all seinen Facetten. Das Gesicht als Seele, als die atmende, lebendige, sich öffnende Oberfläche des Menschen, wird zum Ort der Artikulation und Kommunikation. Schlicht und kaum inszeniert, räumt die Fotografin ihrem Gegenüber so viel eigene Autonomie ein, die es braucht, um zu "sprechen" und frei von sich zu erzählen. In die Tektonik der Haut haben sich die Jahre eines Lebens als Falten eingegraben. Schicksal und Erlebnisse formten ein Gesicht, das einmalig ist und ein besonders kreatives Gegenüber zur Welt darstellt. Der Künstler als Gegenstand der Porträtfotografie ist eine Besonderheit. So versteht sich dieses Buch nicht nur als Dokumentation in der Reihe Dresdner Kunstbücher, sondern vor allem als Kunstband mit hohem ästhetischen Anspruch und fotografischer Poesie. Hier will Gabriele Seitz nicht nur den Typ des Künstlers vorstellen, sondern vor allem seine individuelle Sensibilität und besondere Wachheit im Mimischen, das von der Maske weg zum realistischen Moment größtmögliche Wahrhaftigkeit und Vielfalt anstrebt. Methode dabei ist die konsequente Einhaltung der Frontalansicht, manchmal auch das Viertelprofil, versehen mit Attributen der eigenen künstlerischen Arbeit, den von den Künstlern geschaffenen Bildern und Figuren im Atelier oder auch plain air. "Beim Positionieren des Modells muss genug Licht in den Augen sein" formuliert Gabriele Seitz einen ihrer fotografischen Leitsätze. Dieses "Augenlicht" ist es, das den Betrachter fasziniert und das die Seele des Porträtierten zum Leuchten bringt. Scheinbar mühelos beherrscht die Künstlerin die analoge Technik dank großer intuitiver Erfahrungen. Die anspruchslose Kleinbildkamera verwandelt sich in ihren Händen zum einzigartigen Werkzeug eindrucksvoller, sensibel reagierender Fotografie.

Gabriele Seitz arbeitet nur mit natürlichem Licht und einer perfekt-unkomplizierten Handhabung der Technik. Dabei achtet sie darauf, wie sich der zu Porträtierende vor der Kamera selbst postiert und geht auf individuelle Wünsche ein. Manche Künstler wollten vorher mit ihr zusammen Tee trinken und sich mit ihr über ihr Projekt oder verschiedene andere Themen unterhalten, um sich so gegenseitig etwas kennenzulernen.

Da die Fotografin analog arbeitet, verwendet sie meistens vorsichtshalber einen ganzen Rollfilm für ein Porträt, da sie das Ergebnis ihrer Arbeit nicht vor Ort überprüfen kann. Nach ihrer Vor-Auswahl kommen – oft in Zusammenarbeit und Einvernehmen mit dem Porträtierten – Fotografien in die engere Wahl. Manche Künstler überließen der Fotografin alleine die freie Auswahl, so der Grafiker Bernd Hanke (selbst Fotograf). Er äußerte sich gegenüber Seitz so: „Ich möchte sehen, wie Sie mich sehen.“

Die besondere Poesie der fotografischen Porträts von Gabriele Seitz besteht in der meisterlichen Beherrschung des Schwarz-Weiß-Kontrastes. Der dunkle, fast mystische Schattenwurf des Menschen und der Dinge bezaubern das Auge. Oft modelliert sie das jeweilige Gesicht durch seitlichen Lichteinfall, der die andere Hälfte fast im Dunkel belässt. Das Schauen dieser Bilder (wie in einer Galerie mit Malerei) öffnet den Weg zu Menschen, die selbst eng mit der Kunst verbunden sind, auf eine besondere, geheimnisvoll-faszinierende Weise: Die Psychologie dieser Bilder bietet Einblicke in das Innere der Schaffenden, gewissermaßen als die Rückseite ihrer Kunst und als feinsinniger, sensibler und lebendiger Kommentar zu ihr.

Heinz Weißflog