Ansprache zum Buch
Galerie Félix zum Sommerfest 2022
Liebe Gabriele Seitz, sehr verehrte Damen und Herren, liebe Freunde der Galerie Felix, liebe Lieselotte Rojas Sanoja!
Fotografieren ist eine Form der Kommunikation mit Dingen und Menschen, die eine besonders intensive Beziehung zu jeder Erscheinung von Licht und Kosmos aufbaut und pflegt. Fotografieren heißt, wach sein und auf die Welt, vor allem aber auch auf sich achten. Gabriele Seitz lernte ich auf einer Vernissage in der Radebeuler Galerie von Eckehardt Kempin kennen. Zunächst waren es ihre Porträts, die mich durch ihre feine Psychologie fesselten und einen tiefen Humanismus auszudrücken vermochten. Dann entstand ihr Buch über Bäume und alte Menschen, in dem sie den Porträtcharakter vertiefte und die Lebens-Analogie von Pflanze und Mensch in den Fokus rückte. Schließlich erschien ihr stark ökologisch engagiertes Buch über die Moorlandschaften Deutschlands und nun ein Buch über Blütenpflanzen. Wir sind mit dem Reich der Flora eng verbunden und verwandt, wie schon auf vielen Gemälden der Alten Meister erzählt wird. Die Romantiker haben in ihren Schriften und in ihrer Poesie das Verhältnis zur Natur neu überdacht. In einer geistigen Gegenbewegung versuchten sie, den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen des 18. und 19. Jahrhunderts die göttliche Beseeltheit der Natur entgegenzusetzen. Die Natur ist für sie ein belebtes Wesen, die Erde ein lebendiger Organismus. Nach der Entdeckung der Evolution durch Charles Darwin, der Mendelschen Gesetze und den Erkenntnissen von Ernst Haeckel vertraten Schelling, die Gebrüder Schlegel und der Frühromantiker Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, das Prinzip der Poetisierung der Naturwissenschaften, eine Zusammenschau von Geist und Materie als Möglichkeit einer Schau Gottes in der Natur und im Kosmos. Die Zeit war dazu reif geworden. Und heute ist es nötiger denn je.
In der Pflanzenfotografie wird das fotografische Moment Medium der Kommunikation, ähnlich wie bei der Porträtfotografie. Die Pflanze sitzt gewissermaßen Modell und schaut voller Interesse, innerer Beteiligung aber auch Stolz in die Kamera. So wie der Fotografierende auf die Pflanze sieht, blickt diese auf ihn zurück. Es ist, als hätte sich die Blüte besonders schön gemacht, sie reckt sich dem Betrachter entgegen oder präsentiert voller Hingabe ihre Blüte (n). Im Schwarz-Weiß bietet sich ein besonders intensiver Gestus an, denn das Licht oder der Schatten verstärken den Eindruck, der durch den Ausdruck des Pflanzlichen entsteht. So verbergen sich manche von ihnen in einem dunklen Behütetsein, scheu und vorsichtig, andere dagegen, wie die lichtverliebte Tulpe, strecken sich mit aller Kraft in die Höhe, stolz und ihrer Schönheit bewusst. Die Makroaufnahmen sind dabei ins Überdimensionale gesteigert, anders als im handlichen Buch, füllen sie die Wände mit Opulenz und kraftvoller Eleganz, verwandeln den Raum. Die Wände klingen in einer besonderen, nicht hörbaren Musik für die Augen, wispern, jauchzen und raunen in den Tönen einer inneren Vorstellung, die uns gut tun und verzaubern.
Das während der Corona-Zeit entstandene, poetische Blütenpflanzenbuch „In Lethes Garten“ ist in der Ausstellung mit einem Auszug von 22 Großfotografien vertreten. Orte der Pflanzenbegegnung waren der heimische Garten in Radebeul und der Botanische Garten der TU Dresden, sowie Italien, wo das atmende Blütenbild der für die Ägypter ach so symbolischen und lebenswichtigen Lotusblume entstand. Das Buch bietet einen Reichtum an heimischen und exotischen Blütenpflanzenbildern, denen Haiku, Tanka und Gedichte anderer Reim- und Versformen von Gabriele Seitz zugeordnet wurden, sowie eine Impression von einem Rundgang durch den Botanischen Garten am Beginn des Buches, die von mir verfasst wurde. „In Lethes Garten“ ist eine Metapher für den Zauber der Verwandlung, die mit uns stattfindet, wenn wir aufmerksam durch das Reich der Pflanzen gehen, gerade durch einen solchen, wie dieser, in dem auf engsten Raum zehntausend Pflanzenarten versammelt sind, die der Mensch wie in einem irdisch-umgrenzten Paradies gepflanzt, gepflegt und behütet hat, um die Natur und ihren Schöpfer zu ehren und zu schützen. An diesem Ort erfüllt sich der Gedanke von Novalis, wie in diesem kleinen Buch: Biologie und Poesie vereinen sich hier und durchdringen einander mit einem besonderen Geist: Der Demut und Verehrung der Natur, dem Preis und Lobgesang auf ihre wundervolle Schönheit und Vollkommenheit, wo jedes Blatt und jede Blüte abgezählt, geformt, gebildet und fein gestaltet ist, die ihren Betrachter von einer unendlichen Schöpferkraft überzeugen.
Lethe ist der Fluss (der Unterwelt,) des irdischen Paradieses, wo die Geliebte Beatrice ihren Dante erwartet und ihn eine schöne Frau, die Matelda, untertaucht, damit er alles Schlechte und seine Vergehen vergessen möge, um gereinigt den Aufstieg zu Gott unternehmen und um das reine Licht empfangen zu können. In der „Göttlichen Komödie“ von Dante wird der rechte Weg der Seele nachgestaltet, die aus der Verwirrung und Schande durch die Hölle und das Fegefeuer gehen muss, um zur Selbsterkenntnis im Paradies zu gelangen. Diese mystische Schau beginnt nach der Taufe im himmlischen Fluss Lethe in der Natur ganz wie es in der Metapher dieses Buches gesagt wird. Lassen wir uns zum Abschluss von den deutschen Namen der hier von innen strahlenden Blütenpflanzen entzücken: Neben dem fragilen Silberblatt finden sich hier das Zwillingsblatt, die Jungfer im Grünen, Rosen, die Wilde Malve, der Sonnenhut, die Akelei, das Elfenbein-Mannstreu, die Schleifenblume, die Koreanische Waldrebe, Arnika, der Schnee-Felberich, der Ästige Affordill, die Tulpe und die September-Silberkerze. Jede Blume entfaltet ihre Seele und innere Schönheit über Duft und Farbe. Hier steht jede von ihnen in einem besonderen Licht. Das Schwarz-Weiß macht sie zu Brüdern und Schwestern, die alle miteinander verwandt sind und sowohl im Licht als auch im Schatten leben. Die feine Melancholie verstärkt die lebendige Kraft, in deren Hintergrund die Vergänglichkeit wohnt und auf ihre Zeit wartet. Ohne Dunkel kein Licht, möchte man meinen. Hier wird die alles umfassende Dialektik deutlich, das Yin und Yang des Universums in ihrem feinen spirituellen Zusammenspiel.
Wir sind hier zusammengekommen, das Buch „In Lethes Garten“ von Gabriele Seitz zu taufen und zu feiern, nicht mit dem Wasser der Lethe, sondern mit den lebendigen Blüten von roten Rosen.
Ich danke Ihnen!
Heinz Weißflog