Nachwort

"Um Haiku zu schreiben, werde ein drei Fuß großes Kind", äußerte sich Bashó, der Altmeister des japanischen Dreizeilers. Im Augenblick die besondere Stimmung der Natur in festgefügter, kanonisierter Form zu erfassen, ist das Ziel jedes traditionellen Haiku. Der kleine, scheinbar beschränkte Raum des Gedichtes bietet unendliche Möglichkeiten dichterischer Freiheit aber auch Strenge. In der Disziplin des Verses wird ein Kosmos sichtbar, an dem alle Sinne beteiligt sind und der poetische Verstand arbeitet. Über den plötzlichen Einfall, der von einem Wort ausgelöst werden kann, das wiederum von einem Windhauch, einem Regentropfen, einen Lichtstrahl im Dichter entstand, indem so eine Regung der Natur ins Bewusstsein fällt, wird das Ewige im Augenblick fixiert. Alles atmet in diesem Moment. Der Kosmos durchflutet den Dichter und uns, die wir das Haiku lesen. Schlaglichtartig wird ein Bild im Leser sichtbar, das der Dichter in vollem Bewusstsein vor Augen hatte. Einen Moment geronnenen Lebens, ein Bildausschnitt der Natur, in einer Gestalt, die von Stille beseelt ist, in einer Facette des bewussten Erlebens - dem Gedicht. Kaum herrscht hier die abendländische Form der Spiritualität, das jenseitige, vom Mythos betraute Wort. Man wagt hier nicht das Wort "Gott" als vage Bezeichnung einer geheimnisvollen Macht zu sprechen. Alles ist ganz atmende Natur aber auch ganz wirkender Geist.

Gabriele Seitz schreibt Haiku, seit sie dem Moor begegnet ist und es in Bildlichtwerken in Schwarz-Weiß mit einer analogen Kamera festgehalten hat. Der opulente Band vereint Aufnahmen vom Moor zu allen Jahreszeiten. Darunter Nah-und Fernsichten, Panoramen und Makroperspektiven, Detailaufnahmen von Blütenpflanzen, Moosen, Vögeln und anderem Getier. Bemerkenswert die fotografische Dichte und der kompositorische Zusammenhalt der Bilder, mit denen sie versucht, Weite und Atmosphäre einzufangen. So wirken viele ihrer Motive wie grafisches Konstrukt aus geschwärztem Wald, Wiesen und Licht, wenn wie aus winzigen Strichen und Punkten ein Schwarm von Wasservögeln vorüberzieht oder solitäres Totholz karg, starr und mürbe in die Höhe ragt.

In Anklam gibt es eines der wenigen Niedermoore Mitteldeutschlands, das Anklamer Stadtbruch im Flusstal der Peene, das Gabriele Seitz seit 2015 immer wieder besucht. Regelmäßig wird das Moor von der Peene überflutet. Die Stille und der Charme der Landschaft mit ihren Sümpfen, den Wasservögeln und anderem Getier faszinierten die Fotografin und inspirierten sie zu diesem Buch. Es zeigt eine Künstlerin, die beobachtet und danach ihre Eindrücke im Gedicht zusammenfasst. Unmittelbare Anschauung und Reflexion begegnen sich. Die an sich sparsame Dichtung des Haiku und des Tanka wird umfangreich mit mehr als 100 Texten und dementsprechend vielen Fotografien in diesem Schwarz-Weiß-Band zelebriert. Das Zusammenwirken der beiden Teile verwandelt das Buch in ein kleines Kunstwerk.

Der eigentliche Reiz des Moores entfaltet sich im Wechsel der Jahreszeiten. Auch das traditionelle Haiku ordnet sich diesem elementaren Rhythmus unter. Jede Jahreszeit hat ihre Eigenheit. Gabriele Seitz versucht, mit ihrer reduzierten Sprache nahe am fotografischen Abbild zu bleiben, dessen äußere Stimmung durch die Behandlung von Licht und Schatten herüber gebracht wird. Optische Kontraste werden in der Sprache der Dichterin gefiltert, gesteigert oder ausgeglichen. Metapher und Bild berühren einander. Gedicht und Bild kommunizieren miteinander, lassen der Fantasie aber auch Freiräume, ohne sich jemals in Deckungsgleichheit zu erschöpfen. Hier wird das Moor zum visuellen und poetischen Kraft-Ort der Natur, der beim Betrachten etwas von der spirituellen Energie abgibt, die Gabriele Seitz selbst empfangen hat.

Heinz Weißflog