Leben wie ein Baum
Zur Kunst der Fotografie von Gabriele Seitz
Furth im Wald ist eine kleine, verschwiegene Stadt im Bayerischen Wald, urwüchsig und verträumt, jenseits der lärmenden Welt. Dort ist die Fotografin Gabriele Seitz geboren und groß geworden. Das prägte ihr freundliches Wesen und ihr den Menschen zugetanes Naturell, das Interesse für den anderen. Bis heute hält ihre Liebe und eine besondere Verehrung für die Natur an, Bäumen gegenüber, aber auch für den alten Menschen mit seiner ins Gesicht geschriebenen Biografie. Seit 1996 in Radebeul bei Dresden lebend, liebt sie Gänge in die nahe Heide, züchtet Haustauben im kleinen Grundstück hinter dem Haus, fiebert um jede Brut, ängstigt sich wegen Katze, Fuchs oder Marder um sie. Als Fotografin interessiert sie sich auch für Menschen anderer Hautfarbe und Kultur, für Völker und Bräuche und betreut in jedem Jahr die Interkulturellen Tage in Dresden mit der Kamera.
Seit dem Jahr 2000 forciert sie die künstlerische Fotografie und hat bereits zahlreiche erfolgreiche Ausstellungen ausgerichtet. Die Motive bewegen sich im Spannungsfeld zwischen Mensch und Natur, Porträt und Landschaft, immer analog und konsequent in Schwarz-Weiß mit einer Canon-Kleinbild-Kamera belichtet. Mit ihr erreicht sie eine erstaunliche Schärfe und Klarheit des Abzugs, die sie mit einer eigenwilligen Technik aus dem lichtempfindlichen Filmmaterial zaubert. So fotografiert sie die Person immer mit dem einströmenden Fenster-Licht im Rücken vor einem hinter ihr angebrachten schwarzen Tuch. Kunst-Licht und Blitz werden vermieden, Stativ ist Pflicht; der zu Porträtierende muss sich dabei lediglich ruhig verhalten. Mit souveränem Blick für das Charakteristische erfasst Gabriele Seitz nach intensiver Sitzung mit dem Gegenüber intuitiv die jeweilige Situation beim Druck auf den Auslöser. Plötzlich wird das Wesen des zu Porträtierenden transparent, offenbart sich ihr in seiner ganzen Tiefe und Schönheit. Das fotografische Porträt von Gabriele Seitz spart nichts aus und ist auf seine Art ehrlich, ohne einen schönenden Realismus, aber immer lyrisch. Durch die überscharfe Genauigkeit der Aufnahme heben sich Oberflächen hervor, wird die Struktur der Natur erlebbar gemacht, ob die faltenreiche, bis auf die Poren sichtbare Haut eines alten Menschen oder die durchfurchte Rinde einer Stiel- oder Korkeiche.
In Gabriele Seitz fotografischem Konzept spielen Baum und Mensch und ihr gegenseitiges schöpferisches Verhältnis eine wichtige Rolle. In Mythen und Märchen hat sich der Mensch ein geistig-spirituelles Bild vom Baum gemacht, seine Nähe in allem Wachsen und Vergehen im Kreislauf der Natur fantasiereich umgedichtet und seine elementare Bedeutung für die mythische Erklärung der Welt genutzt. Der türkische Dichter Nazim Hikmet schrieb: „Leben wie ein Baum/einzeln und frei/und brüderlich/wie ein Wald/das ist unsere Sehnsucht“. Hinter dem Pathos dieses Dichterwortes verbirgt sich das Credo von Gabriele Seitz Kunst, die „Ehrfurcht vor dem Leben“, wie es schon Albert Schweizer formulierte.
Gabriele Seitz findet ihre Motive vor allem im Moritzburger Wald, in der Nähe von Hans Georg Anniés Atelierhaus. Dort hat sie den Holzschneider und Bildhauer vor seinem Lieblingsbaum fotografiert, wie er meditierend, den Kopf demütig senkt, am Stamm lehnt. Korkeichen und Olivenbäume aus dem Süden Italiens und Griechenlands verzaubern durch ihre gewaltige Kraft und Energie, die man bis in die letzten Astspitzen spürt. Magische Anziehung üben besonders alte Bäume aus, ihre dicken und festen Rinden, die von Frost, Hitze und Feuchtigkeit zermürbt, aufgebrochen und zerklüftet, die Zeit in sich tragen und vom Altern in Würde berichten. Versteinerungen und Baumstümpfe mit ihren schon aufklaffenden und verwitterten konzentrischen Ringen zeigen, dass Schönheit und Vergänglichkeit zwei zueinander gehörende Seiten darstellen. Selbst im Sterben offenbaren sich Grazie und Kraft der Natur. Ehrwürdig ist auch der alte Mensch, auf dessen Haut und in dessen Zügen sich die Jahre eingedrückt haben. Im Dresdner Altenheim „pro seniore, Residenz Elbe“ ergab sich für Gabriele Seitz die Möglichkeit, dort lebende Menschen für ein Porträt zu gewinnen. Durch intensive Gespräche und Begegnungen in der hauseigenen Bibliothek entdeckte sie gütige und welterfahrene Menschen, vor allem Frauen aus einfachen Berufen, die sich auf ihre Art natürlich gaben und sich mit Würde präsentierten. Hier wird die sprichwörtliche Schönheit des alten Menschen sichtbar. Ihre faltigen, durchfurchten Gesichter ähneln den Borken der Bäume. Wie eine Aureole umhüllt das schlohweiße Haar die Häupter. Eine geschickt um den Hals gelegte weiße Perlenkette, ein Tuch oder eine geschmackvolle Bluse steigern dabei die Wirkung. Alle Bilder geben einen Einblick in eine von Arbeit geprägte Persönlichkeit, deren Charakter und Mentalität, wie das von Gretel Schädlich (Näherin), Elisabeth Schöne ( Fachschwester für Radiologie) und Marianne Volkmar (Textilverkäuferin). Außerdem hat Gabriele Seitz viele Persönlichkeiten aus Kunst und Kultur porträtiert. Ihre Verbindung zur bildenden Kunst, zu Literatur, Musik und Tanz hat sie auch zu einer Bewahrenden gemacht, die zeitgenössische Persönlichkeiten nicht nur ablichtet, sondern zum visuellen Erlebnis werden lässt. Mit ihren Porträts von Karl-Heinz Adler (Maler), Helga Alschner (Bühnen- und Kostümbildnerin), Sigrid Artes (Malerin und Grafikerin), Wolfgang E. Herbst Silesius (Maler/Grafiker), Carla Junge (Schauspielerin), Helga Luzens (E.S.H. Luzens: Grafik/Fotografie), Jürgen Schieferdecker (Maler/Grafiker/Objektkünstler), Tine Schulze-Gerlach (verstorben 2011, Schriftstellerin in Radebeul), Priscilla Ann Siebert (Malerin und Grafikerin) und Werner Wittig (Maler/Grafiker) fängt sie die Aura kreativer Menschen ein, die über die Grenzen der Region hinaus bekannt geworden sind. Sechs Bildsequenzen eines Gesprächs mit Charlotte Loßnitzer, 2009 in ihrer Wohnung geführt, stellen eine welterfahrene Künstlerin und Tanzpädagogin vor. Gabriele Seitz hat die zu Porträtierenden immer in ihrer Wohnung aufgesucht, wo sie ihr in vertrauter Umgebung Modell sitzen konnten. Während eines Ausflugs nach Ried bei Bad Kötzting im Bayerischen Wald entstand 2011 ein Foto von der 1000 jährigen herbstlichen „Wolframslinde“ zusammen mit ihrer Schwester Agnes aus Gleißenberg (Nach Wolfram von Eschenbach, der nachweislich um 1200 auf der nahegelegenen Burg Hardstein weilte, wurde die Linde benannt). Im gleichen Jahr fotografierte Gabriele Seitz den Winnetou-Darsteller Pierre Brice, Schirmherr des 20. Karl-May-Festes in Radebeul.
Gabriele Seitz erstellt mit ihren Porträts feinfühlige Psychogramme, die sich durch eine besondere Klarheit und Unverstelltheit auszeichnen. Neben der dokumentarischen Leistung als Porträt wirken in jedem von ihm eine dem Leben abgelauschte Poesie und Leichtigkeit, die sich immer realistisch äußert. Mit feinem Gespür für die Situation sind alle ihre Bilder mit Neugier und Zuwendung dem Menschen gegenüber angereichert, der sich vor ihre Kamera begeben hat.
Heinz Weißflog
„Den Bäumen lauschen“
Es gibt Legenden, die berichten, dass man unter alten Bäumen liegend, ihren Erlebnissen lauschen kann, wenn sich der Sommerwind in den Ästen und Blättern verfängt und sie uns wispernd und raschelnd an den Geschichten teilhaben lassen. Wer Bäume umarmt, sagt man, kann ihr Herz schlagen hören und eins werden mit der Energie der Natur. Oftmals wird die Entwicklung eines Baumes auch mit den Lebenszyklen der Menschen verglichen. Man möchte alt wie ein Baum werden und wurzeln. Bäume geben uns Nahrung, oft auch Zuflucht und sind Schutzraum. Mit den Bäumen können wir atmen…
Es gibt keine Zustände, die bleiben, sondern nur solche, die sich verändern. Und diese Fähigkeit zur Metamorphose zeugt von der Vitalität des Lebens. Denn in jedem Anfang ist bereits das Ende angelegt. Aus jedem Ende entspringt ein neuer Anfang. Das ist der ewige Kreislauf von Werden, Wachsen und Vergehen. Das Leben kann man doch nur feiern mit dem Wissen um die Endlichkeit allen Begehrens, also wenn man das Vergehen nicht negiert.
Gabriele Seitz besitzt die Gabe, sensibel als Fotografin Lebensspuren zu folgen, die Geschichten in sich tragen und den Betrachter dazu anregen, sich seiner selbst zu vergewissern. Sie setzt Porträts betagter Menschen lebendig Bäumen gegenüber, deren Rinden von Sturm, Regen, Hagel, Schnee und Sonne charaktervoll gegerbt sind. Das Äußere verbindet sich mit dem Inneren und besitzt das Assoziationspotential, um über des Lebens Auf und Ab nachzudenken. Im Alltag schütteln wir oftmals unsere Träume ab, mauern wir Vergangenes ein und glauben damit wahrer, lebendiger und unantastbarer zu sein. Welch ein schmerzlicher Irrtum! Denn wir entfernen uns auf diese Weise immer weiter von uns selbst, von unseren Ansprüchen und Bedürfnissen. Die Schwarz-Weiß-Fotografien von Gabriele Seitz zeigen Menschen, die keine Masken tragen, die ihrer Selbst bewusst sind. Sie bekennen sich zu ihrem So-Sein mit entwaffnender Offenheit. Sie schauen den Betrachter an, oftmals nachdenklich lächelnd, ja ermutigend, so als würden sie uns gleich befragen wollen. Da gibt es keine Distanz, wenngleich die Schwarz-Weiß-Fotografie dennoch etwas entrückt. Und das ist auch gut so, da das Gefühl eventuell manipuliert zu werden, sich nicht einstellt.
Man schaut in Gesichter, die schön sind. Und diese Schönheit hat etwas mit Wahrhaftigkeit zu tun und mit Erfahrung, damit, das Leben in seinen Höhen und Untiefen durchmessen zu haben. Man möchte mehr von diesen Menschen wissen, deren Aura uns für sie einnimmt und die selbstbewusst etwas von sich preisgeben. Die Distanzlosigkeit, die sich mit dem Blick behauptet, schenkt dem Betrachter Vertrauen. Gabriele Seitz nähert sich den Porträtierten behutsam, nahezu zärtlich. Sie vertraut der Dramaturgie von Licht und Schatten. So stellt sie nichts bloß, sondern lässt wirken, ohne Überhöhung. Die Menschen behalten ihre Würde und ein Geheimnis, das sie einhüllt und unantastbar macht. Es ist das Geheimnis des eigenen Lebens, das sich in der Haltung, der Mimik eingeschrieben hat und zwar mit allen glücklichen und demütigenden Momenten. Diese Menschen sind geworden mit dem Ertragenen, Erfühlten und Gewünschten und sie machen uns mit ihrer stolzen Haltung Mut, zu leben, seine eigene Spur zu ziehen, die sich so charaktervoll im fließenden Ornament der Baumstrukturen wiederfindet.
Hier wird Zeit, die vergeht, erfahrbar gemacht und gefüllt mit Momenten von Innerlichkeit und einer Stille, die uns zusammenrücken lässt und hilft, Mensch zu bleiben und Mensch zu sein in einer Gegenwart, die so kalt geworden ist.
Es gibt Legenden, in denen sich Nymphen in Bäume verwandeln, um der Realität zu fliehen und nur noch Beobachter zu sein, um ihre Geschichten an einfühlsame Menschen weiter zu geben, die sommers unter den Blätterkronen liegen und ihnen lauschen…
Karin Weber
Diplom-Kunstwissenschaftlerin
Kuratorin und Galeristin