DIE WAHRHEIT DES AUGENBLICKS

„Wer sehen kann, kann auch fotografieren.
Sehen lernen kann allerdings sehr lange dauern“.

Dieser bekannte Werbespruch der Leica AG zielt genau auf eine der wichtigsten Anforderungen an den Fotografen: den einfachen Akt des Sehens, der ja erst eine Wahrnehmung ermöglicht, bewusster zu machen. Fotografieren bedeutet, gleichzeitig und innerhalb von Sekundenbruchteilen, einen Sachverhalt zu erkennen und die strenge Anordnung der visuellen, wahrnehmbaren Formen, die ihm seine Bedeutung geben. Es bringt Verstand, Auge und Herz auf eine Linie.

Die Arbeiten von Gabriele Seitz demonstrieren sehr eindrucksvoll, dass sie um die essentiellen Forderungen an die junge Kunstform des Fotografierens weiß, wie z.B. das Modellieren mit Licht. Die eigenwillige Dramaturgie ihrer Bilder ist, wie ihre Gedichte und ihre Persönlichkeit, feinfühlig und sehr bestimmt zugleich. Das vorliegende Buch spricht von einer so ungewöhnlichen Beharrlichkeit und Ausdauer in der Verfolgung ihrer künstlerischen Visionen wie ich es in meinem fast 40jährigen Berufsleben äußerst selten angetroffen habe. Für Gabriele Seitz ist das Fotografieren eine Art zu leben.

Kaum ein Thema fasziniert in der Fotografie so nachhaltig wie das Portrait. Das Wesen eines Menschen sichtbar zu machen, ist die höchste Kunst. Hier geht es um Kommunikation, um Ehrlichkeit, um Offenheit, um Authentizität, um emotionalen Zugang zu den Abgebildeten. Obwohl die Portraits von Gabriele Seitz stets Klarheit zeigen und jeden verschönernden Effekt vermeiden, bewahren sie stets Respekt, ja Ehrfurcht dem Anderen gegenüber. Alle ihre Bilder sind erfüllt von einer Meditation über den Menschen und das Menschsein.

Ihre Arbeiten haben für mich sehr viel zu tun mit dem „Magischen Realismus“, einer Kunstrichtung, die in Südamerika, wo ich sehr lange gelebt habe, eine große Rolle spielt. In diesem Umfeld voller Erschütterungen sozialer und politischer Verhältnisse, ist der Künstler wie ein Verkünder eines großen metaphysischen Zusammenhanges, in einer Welt magischer Gesetze. Das Übersinnliche, Rätselhafte, Geheimnisvolle wird in eine alltägliche Erfahrungswelt integriert, stellt diese aber nicht in Frage, bricht sie nicht auf. In den Bildern von Gabriele Seitz gibt es eben diese deutliche Gegenüberstellung. Die fast nüchtern dargestellte Person in einem geheimnisvollen Bezug zu ihrem Umfeld, besonders zum Bildhintergrund. Es ist wie ein Zugang zu der Welt hinter den Dingen.

Gabriele Seitz hat die außerordentliche Fähigkeit unverwechselbar zu sein. Mit der ihr eigenen gezielten Lichtregie, in ganz bewusst einfachen aber wirkungsvollen Rauminszenierungen, zaubert sie das Bildnis eines Menschen, den man zu kennen glaubt ohne ihn je gesehen zu haben. Dem Betrachter wird es vorkommen, als wäre er gegenwärtig im Moment der Aufnahme. Die Atmosphäre gewinnt eine geistige, zeitlose Dimension; Gabriele Seitz fängt die Wahrheit des Augenblickes ein und verleiht ihm Dauer. Es ist eine Aufforderung zum Dialog.

Lieselotte Rojas Sanoja, März 2015

Galerie Felix, Dresden - Loschwitz